IPU emblem
Internationale Paneuropa-Union

Europäische Union und zunehmende Gefahren

Präsident Alain Terrenoire hielt auf den 41. Paneuropa-Tagen, die von der Paneuropa-Union Deutschland vom 5. bis 7. Juni 2015 in Weiden veranstaltet wurden, die folgende Rede über die Europäische Union und die wachsenden Gefahren.

"Die Welt wird jeden Tag kleiner", behauptete Richard Coudenhove-Kalergi schon 1923 in seinem der europäischen Jugend gewidmeten Buch Pan-Europa und erklärte dazu, dass, "jeder Europäer einen Teil des Weltschicksals in seiner Hand" halte.

Seit diesem prophetischen Appell ist fast ein Jahrhundert vergangen. Während dieser Zeit sollte Europa nach und nach die schlimmsten Dramen seiner langen Geschichte erfahren und auch die glücklichsten Versprechen einer neuen Renaissance, die ihm Umsetzungen und Perspektiven der Europäischen Union angeboten haben.

Beim Zerfall der sowjetischen Herrschaft hatte uns Michail Gorbatschow allerdings noch dies warnend in Aussicht gestellt: "Ihnen ist der schlimmste Dienst erwiesen worden, man hat Sie des Feindes beraubt."

Und dennoch muss sich Europa im gegenwärtigen zweiten Jahrzehnt des XXI. Jahrhunderts auf den Anstieg neuer Gefahren einstellen. "Ich habe unsere Epoche", erklärte Papst Franziskus, "als eine Zeit des Krieges definiert, eines dritten Weltkrieges stückchenweise...".

Diese Gefahren, die ursächlich sowohl von innen herrühren wie von verschiedenen Bedrohungen aus der Nachbarschaft, vom Süden wie vom Osten her, diese Gefahren könnten nicht nur die Europäische Union in ihrer Funktionsweise wie in ihrer Existenz in Frage stellen, schlimmer noch: Sie könnten die eigentlichen Fundamente der europäischen Zivilisation zerfallen lassen. In seinen griechisch-lateinischen und jüdisch-christlichen Gründerwurzeln, dann in Spanien und in den Balkanländern durchsetzt mit muslimischer Kultur, hat sich die europäische Zivilisation unter dem Einfluss des Humanismus, dem Zeitalter der Aufklärung und einer fortschreitenden Dechristianisierung verweltlicht.

Durch den Zustrom einer ständigen Immigration seit der Auflösung der Kolonien und durch die vermehrter auftretenden Konflikte in Afrika, im Nahen Osten und in Westasien hat sich Europa teilweise islamisiert, nicht mehr als Folge von Eroberungsinvasionen, sondern durch den Zuwachs von muslimischen Bevölkerungen, auf deren wirtschaftliche Bedürfnisse und politisches Asyl zu reagieren war.

Ein Anwachsen des Nationalpopulismus wurde immer deutlicher spürbar seit der Krise im Jahre 2008. Er verschärfte sich gegenüber der Europäischen Union wie auch die Zwangsläufigkeiten, die dies vor allem, jedoch nicht ausschließlich für die Länder der Euro-Zone nach sich zieht.

Manifestiert sich diese Feindseligkeit auch in verschiedenen Anfechtungen, die sich je nach Mitgliedstaaten unterscheiden, macht sie sich weiterhin in der ganzen Europäischen Union breit, und zwar in Form von populistischen Demagogien und nationalistischen Ansprüchen mit der vorgeschobenen Behauptung, die Identitätsprobleme, die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme der europäischen Völker zu lösen. Die Fremdenfeindlichkeit verbreitet sich nunmehr immer weiter wie ein Lauffeuer.

Wenn auch alle europäischen Länder davon erfasst sind, stehen zwei Länder symbolisch für diese anti-europäische Entwicklung: Griechenland wegen der gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen aus der Finanzlage und Großbritannien, das sich noch Fragen zu stellen scheint über seine Zugehörigkeit zur Europäischen Union dreiundvierzig Jahre nach dem Beitritt zu den Römischen Verträgen. Die Griechen wie die Briten sollten ohne langes Zögern über ihre Zukunft entscheiden. Für Erstere dreht es sich darum zu wissen, ob sie entschlossen sind, die unvermeidlichen Verpflichtungen zu einer gemeinsamen Währung in die Praxis umzusetzen. Und Letztere müssen sich entscheiden, ob sie das Engagement für ein unabhängiges und vor allem solidarisches Europa akzeptieren.

Obwohl die Geschichte es in blutigen Lettern festschreibt, dass der Nationalismus Krieg bedeutet, haben denn die Europäer schon vergessen, dass der Wunsch Europas zuallererst darin bestand, Mittel zur Friedensverwurzelung untereinander zu sein, weil sie mit dem Streit um die Souveränitätsanteile auf demselben Raum vom Atlantik bis zum Ural niemals aufgehört haben?

Als Mächte auf diesem Planeten haben die europäischen Staaten die Welt bis zum Anbruch des XX. Jahrhunderts kolonialisiert und bearbeitet. Und durch die beiden infolge ihrer Erobererrivalitäten entfachten Weltkriege sind sie dahin gebracht worden, sich den Hauptsiegern ergeben zu müssen.

Heute ist der Anteil, der Europa und seinem Einfluss zukommt, deutlich geringer, und zwar durch den demographischen Aufschwung Asiens, Amerikas und Afrikas. Dieser Aufschwung wird begleitet vom Entstehen neuer Mächte und der globalen wirtschaftlichen Entwicklung.

Die Bedeutung der Energie in der Weltwirtschaft, der daraus entstehende Austausch und die Folgen auf die klimatische Veränderung sowie auf die Umweltverschmutzung haben zu einer gegenseitigen Abhängigkeit im gesamten Gefüge der Erde beigetragen. Mehr als jeder andere ist sich Europa dessen bewusst und könnte einen vorbildlichen Weg weisen zu diesem neuen so wichtigen Einsatzgebiet für die Zukunft der Menschheit.

Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien veränderten die globalen Verbindungen völlig, sowohl auf politischer und wirtschaftlicher wie auf kultureller Ebene. Sie haben die weltweiten Beziehungen wesentlich verbessert, ebenso im Hinblick auf die Menschen wie auf den Handel. überdies haben sie es vor allem den Vereinigten Staaten ermöglicht, die Pioniere sind in diesem Sektor und hier die Hauptinnovationsunternehmen eingerichtet haben, eine neue überwachungs-, Kontroll- und Interventionsmacht zu werden, inklusive im militärischen Bereich, und zwar über die gesamte internationale Gemeinschaft, ganz speziell über Europa.

Wenn Europa die Erfordernisse und Ansprüche des XXI. Jahrhunderts anpacken will, muss es sich in diesem Kontext also sowohl innerhalb wie außerhalb seines Terrains wie eine solidarische, freie, unabhängige und souveräne Macht behaupten, und dies nur in den ihm von den Nationen überantworteten Gebieten.

Um die neuen sie bedrohenden Gefahren abzuwehren, müssen sich die Europäer die mobilisierenden Ziele setzen, mit denen sie ihre Gründerwerte, ihre geistigen und humanistischen Werte schützen können, mit denen sie zum weltweiten Frieden und Fortschritt beitragen können, mit denen sie ihr gesellschaftliches Leben bewahren können und mit denen sie ihre gemeinschaftliche Sicherheit garantieren können.

Denn es heißt für sie, zuerst in Europa aktiv zu werden.

Die im ersten Jahrzehnt des XXI. Jahrhunderts aus den Vereinigten Staaten überkommene Krise ist von den europäischen Institutionen nicht in all ihrer Gefährlichkeit in Angriff genommen worden.

In Anwendung der von den Römischen Verträgen vorgegebenen Möglichkeiten und mit dem zusätzlichen Einsatz neuer Instrumente, insbesondere von Finanz- und Bankmitteln, haben die Mitgliedstaaten nicht genügend auf gemeinschaftliche Reaktionen gesetzt. Ohne ausreichend abgestimmte und angenäherte wirtschaftliche Perspektiven, ohne geteilte Haushaltsdisziplin, ohne ein harmonisiertes Steuerwesen und ohne eine angeglichene soziale Sicherheit konnte es nur noch zu Verzerrungen der Ergebnisse zwischen den Mitgliedstaaten kommen, und zwar in punkto Beschäftigung, Außenhandel, Einhaltung der Kriterien von Maastricht und Staatsschulden.

Es mangelt auch stark an der Einführung einer europäischen Energiepolitik, denn sie hätte es den Europäern ermöglicht, gegensätzliche Entscheidungen zu verhindern, und sie hätte zu einer sicheren Versorgung verholfen dank eines abgewogeneren Austauschs, inklusive des Finanzverkehrs, zwischen den Produzenten außerhalb der Union und den europäischen Verbrauchern. Und warum haben die Länder der Eurozone noch immer nicht beschlossen, ihre Rohstoffeinkäufe mit ihrer eigenen Währung zu begleichen?

Um zu reagieren und voranzukommen, lehrt die Erfahrung, dass sich Europa vierundsechzig Jahre nach der Schaffung der ersten übernationalen Institution vornehmlich weiterhin auf die gegenseitige Abstimmung zwischen den Regierungen stützen muss.

Der Europarat hat sich auf diese Weise als privilegierter Ort für die Governance der Union bestätigt. Es ist offensichtlich, dass die Europäische Kommission noch immer nicht von den europäischen Völkern als eine ausreichend repräsentative und demokratische Institution angesehen wird, um in deren Namen Entscheidungen mit den politischsten Konsequenzen zu treffen.

Die Orientierungen der Europäischen Kommission, insbesondere liberale Orientierungen, die systematisch feindlich gegenüber Eingriffen der Mitgliedstaaten ins Wirtschaftsleben angelegt sind und die sich der Bildung von europäischen Großunternehmen entgegenstellen, selbst wenn sie sich auf die Ebene ihrer weltweiten Konkurrenten begeben, diese Orientierungen haben dazu beigetragen, Europa im globalen Wettbewerb zu schwächen. Hinzukommt eine rückfällige Kritik an einer überregulierung, die umgekehrt proportional zum Fehlen Europas bei Fragen steht, die vor allem ihre Außenpolitik und äußere Sicherheit betrifft.

Trotz der beachtlichen Hilfe, die die Union für die Entwicklung neuer Mitgliedstaaten geleistet hat, trug die europäische, oft von spezifischen Interessen inspirierte Reglementierung auf zahlreichen Gebieten dazu bei, die Europäische Union unpopulär zu machen, z. B. bei der Umwelt, der Lebensmittelsicherheit oder sogar der Landwirtschaft.

Im Jahre 2014 wurde ein neues Europäisches Parlament gewählt, und die neue Europäische Kommission engagierte sich für die Förderung von Investitionen in die Forschung, die Innovation und die Infrastrukturen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Es ist dringend notwendig, dass die lobenswerten Absichten in die Tat umgesetzt werden und mit einem Wiedererstarken in der Europäischen Union praktische und nachweisbare Auswirkungen – vor allem auf die Beschäftigung – zeitigen.

Die Krise hat den Europäern auch aufgezeigt, dass das erreichte Lebensniveau und die soziale Sicherheit, von der sie profitiert haben, in Frage gestellt werden könnte. Angesichts der unterschiedlichen geforderten Anstrengungen zur überwindung der Krise regte sich sowohl bei denen eine Unzufriedenheit, die es geschafft hatten, günstige Ergebnisse zu erzielen, als auch bei denen, die fanden, dass diese Anstrengungen übertrieben waren, ja sogar unüberwindbar.

Ob Mitglied des Schengener Abkommens oder nicht, alle europäischen Staaten sind einem unwiderstehlichen Druck von Immigranten ausgesetzt. Mangels einer wirklichen gemeinschaftlichen Politik musste sich jedes Land mit dieser Frage beschäftigen, und zwar dringend und entsprechend seiner Interessenlage, seiner Mittel und seiner Geographie, wobei die Südstaaten besonders dem Massenansturm von Immigranten über das Meer ausgesetzt sind.

Ob es sich um humanitäre Situationen handelt, um politisches Asyl oder wirtschaftliche Notwendigkeiten, Europa darf nicht länger warten, die gebotenen Vorkehrungen zu treffen. Diese müssen einen defensiven Aspekt gegen die Menschenhändler haben, die die menschliche Misere ausnutzen, wie auch alles unternommen werden sollte, Hilfe für den Erhalt dieser Bevölkerungen in ihrem Herkunftsland zu leisten. Doch die Europäer müssen auch den unvermeidlichen Empfang einiger dieser Verzweifelten in den Mitgliedstaaten organisieren, die am meisten Bedarf an ihnen haben, demographisch und ökonomisch gesehen.

Wenn auch seit Beginn des XXI. Jahrhunderts die letzten Konflikte infolge der Zerstörung der Länder von Ex-Jugoslawien verschwunden sind, ist der Frieden wegen der Rückeroberung ehemaliger sowjetischer Gebiete durch Russland nicht dauerhaft in Europa und auch nicht in seiner östlichen Nachbarschaft eingezogen. In Moldawien, in Georgien und dann in der Ukraine haben die auf Initiative des russischen Präsidenten direkt oder indirekt gesteuerten Eingriffe unter Missachtung der von der internationalen Gemeinschaft anerkannten Grenzen die ängste geschürt, dass sich dort neue Kriegsbedrohungen intensivieren könnten.

Die Aufrechterhaltung eines übermäßigen Einflusses der Vereinigten Staaten, insbesondere auf Mittel- und Osteuropa, hat ebenfalls dazu beigetragen, die Meinungsverschiedenheiten mit einem am Ende des Kalten Krieges gedemütigten Russland zu verschärfen.

Jedoch sollte eine neue europäische geopolitische vision russland und die europäische union dazu bringen, eine zusammenarbeit gegenseitiger interessen mit ihren nachbarländern aufzubauen, sowohl eine politische wie auch eine wirtschaftliche zusammenarbeit.

Trotz der gegenwärtigen Vorbehalte gegenüber einer zusätzlichen Erweiterung der Europäischen Union wäre es ungerecht, den südosteuropäischen Ländern, die noch nicht Mitglied sind, den Eintritt auf die Gefahr hin zu verwehren, dass die Kriterien für die Mitgliedschaft geändert werden müssten. Die Europäer müssen auch ihre Grenzen kennen, um sich besser mit der Union zu identifizieren.

Wir wissen im übrigen, dass sich die großen globalen Einsätze in diesem Jahrhundert vielmehr um Länder des Pazifiks und des Indischen Ozeans abspielen als an den Ufern des Nordatlantiks und des Mittelmeers.

Deshalb sollte sich die Europäische Union voll und ganz für Lösungen einsetzen, die bei den jetzigen Umwälzungen im Maghreb, in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten erforderlich sind, umso mehr als sich mit dem Erstarken zerstörerischer Macht des radikalen Islamismus terroristische Relaisstationen in den Ländern des Nachbareuropas niedergelassen haben.

Uns fehlt also in dieser für den Frieden bedrohlich gewordenen Zeit nicht weniger Europa. Sondern ganz im Gegenteil, wir haben noch nie so sehr ein starkes, respektiertes, selbstsicheres und solidarisches Europa gebraucht wie heute.

Gewiss, die Kommission und das Europäische Parlament könnten ihre Bestrebungen nach Reglementierung herunterschrauben, wenn diese nicht unbedingt notwendig sind, und es vor allem den Mitgliedstaaten überlassen, das zu übernehmen, worin sie sich besser auskennen als die Union. Demgegenüber obliegt den Europäern die zwingend notwendige Aufgabe, eine militärische Organisation ins Leben zu rufen, die in der Lage ist, ihre eigene Verteidigung zu sichern, denn die NATO kann das nicht immer garantieren.

Absolute Dringlichkeit besteht jedoch darin, die Jugend zu mobilisieren, damit sie sich als einzig dazu Befähigte den europäischen Ehrgeiz zu eigen macht, den Gründerwerten unserer Zivilisation einen Sinn zu geben und dabei über die individuellen und nationalen Abenteuer, so legitim sie auchsein mögen, hinauszugehen.

Sollte sich die Laizität, das heißt die strikte Trennung von Religionen und Staaten, durchsetzen, wissen wir sehr wohl, dass die geistlichen überzeugungen weiter vorhanden sind und Einfluss haben, Europa ist dabei mit inbegriffen.

Es obliegt also denen, die an die Werte des Evangeliums glauben, ihre überzeugungen mit Mut und Bestimmtheit zu bekräftigen in dem Wissen, dass – wie der große französische Schriftsteller André Malraux es vorhersagte: "Das XXI. Jahrhundert wird geistlich geprägt sein oder nicht."

Alain Terrenoire
Präsident der Internationalen Paneuropa-Union

Die Europäische Union und zunehmende Gefahren (DE) (104 KB)